Sonntag, 13. März 2016

Putin unterzeichnet Gesetz zur Wahrung des Gedenkens an politische Verfolgungen

Präsident Putin hat am 9. März ein von der russischen Regierung eingebrachtes Gesetz unterzeichnet, das schon bestehende Gesetze (u. a. das Rehabilitierungsgesetz von 1991) um einige Bestimmungen zur Erinnerungspolitik ergänzt.

Staatsorgane auf föderaler und regionaler Ebene sind demnach berechtigt, die Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgungen zu fördern und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Wenn Massengräber von Opfern politischer Verfolgungen gefunden werden, sollen sie als Teil des Kulturerbes verzeichnet und zu Gedenkstätten gemacht werden.

Außerdem können die Behörden Nichtregierungsorganisationen sowie Bürger unterstützen, die in diesem Bereich tätig sind. Ausdrücklich genannt werden hier die Suche nach Massengräbern Verfolgter, aber auch die Recherche und Bekanntgabe von "Archivdokumenten über die Geschichte der politischen Repressionen" sowie die Durchführung von Ausstellungen zu diesem Thema.

Freitag, 4. März 2016

Kritik an vorgeschlagener Revision des "Agentengesetzes"

Kontroversen um Definition der "politischen Tätigkeit"

Am 19. Februar hat eine Gruppe von Duma-Abgeordneten im Auftrag des Justizministeriums einen Gesetzentwurf in die Duma eingebracht, der das so genannte „Agentengesetz“ in einer wesentlichen Bestimmung korrigieren und präzisieren soll. Präsident Putin hatte eine entsprechende Revision des Gesetzes mehrfach angekündigt, unter anderem auch auf einer Sitzung des Menschenrechtsrats bei Präsidenten im Oktober 2015.

Es geht um die Definition des Begriffs der „politischen Tätigkeit“. Das ist von Bedeutung, weil NGOs, die ausländische Unterstützung bekommen und „politisch tätig“ im Sinne dieser Definition sind, als so genannte "ausländische Agenten" verzeichnet werden.

Was unter „politischer Tätigkeit“ zu verstehen ist, ist in der geltenden Fassung des Gesetzes nur ungenau festgelegt. Die willkürliche Auslegung, die dazu führte, dass inzwischen etwa 120 NGOs als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt werden, wurde immer wieder angeprangert. Bisher gilt das Bestreben, die bestehende „staatliche Politik“ ändern zu wollen und in diesem Sinne beispielsweise Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, als „politische Tätigkeit“.

Der jetzt eingebrachte Entwurf basiert auf den Anregungen des Justizministeriums. Er läuft darauf hinaus, dass jede Mitwirkung in staatlichen Gremien und Zusammenarbeit mit Behörden als "politisch" gilt:

Eine NGO arbeitet "politisch", „wenn sie im Bereich des Staatsaufbaus und der Grundlagen der Verfassungsordnung, der föderalen Ordnung der Russischen Föderation, der Sicherung der Souveränität und territorialen Integrität der Russischen Föderation…, der Landesverteidigung, Außenpolitik… tätig ist mit dem Ziel, Einfluss auf die Ausarbeitung und Umsetzung der staatlichen Politik, auf die Bildung staatlicher und lokaler Selbstverwaltungsorgane, auf ihre Entscheidungen und Handlungen zu nehmen.“
Es folgt eine lange Auflistung von Formen, in denen diese Tätigkeit ausgeübt wird. Nicht zuletzt werden darunter auch „Wahlbeobachtung“ sowie die „Bildung von Wahlkommissionen“ aufgeführt.

Der Menschenrechtsrat beim Präsidenten und das von Alexej Kudrin geleitete "Komitee für Bürgerinitiativen" haben den Gesetzentwurf massiv kritisiert, beide Institutionen haben detaillierte Änderungsvorschläge vorgelegt. So erklärte der Leiter des Menschenrechtsrats Michail Fedotow, Ziel des Entwurfs sei gewesen, den Begriff der „politische Tätigkeit“ zu präsisieren. Herausgekommen sei jedoch das Gegenteil – der Begriff sei noch ausgeweitet und so umfassend interpretiert worden, dass jede beliebige NGO zum „ausländischen Agenten“ deklariert werden könnte.

Dienstag, 1. März 2016

Die Jugendorganisation von MEMORIAL Perm löst sich auf

Einer der aktivsten MEMORIAL-Verbände, die Jugendorganisation von Perm, wird ihre juristische Existenz beenden. Der Entschluss wurde bereits im November letzten Jahres gefasst. Man will damit einer zwangsweisen Registrierung als „ausländischer Agent“ zuvorkommen.

Die Jugendorganisation war 1998 gegründet worden. Sie verfügte über einen festen Mitarbeiterstab und arbeitete an etlichen langfristigen Projekten.

So organisierte der MEMORIAL-Verband mithilfe von Freiwilligen Unterstützung für Opfer politischer Verfolgungen und ehemalige Lagerhäftlinge. Es gab ein internationales Austausch-Programm - jährlich arbeiteten 50-60 Freiwillige aus Perm in anderen europäischen Ländern, und umgekehrt kamen 30-40 Freiwillige aus dem Ausland nach Perm.

Bis zuletzt wurde die Organisation von ausländischen Stiftungen unterstützt, was nie bestritten wurde, wie Vorstandsmitglied Robert Latypow betont: „Das Jugend-MEMORIAL hatte bis in die letzte Zeit finanzielle Unterstützung aus dem Ausland. Am 31. Januar lief unser letzter Vertrag aus. Wir haben nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass wir diese Gelder bekommen.“

Seit 2012 hätten alle Nichtregierungsorganisationen gravierende Probleme, und das nicht nur infolge des „Agentengesetzes“, so Latypovw: „Es geht um eine ganze Reihe von Gesetzen und vor allem auch um die Rechtspraxis. Dies nimmt allen unabhängigen Organisationen, die den Machthabern nicht nahestehen, die Luft zum Atmen.“

Mehrere Projekte werden laut Latypow zwar jetzt eingestellt, andere dagegen sollen von MEMORIAL Perm fortgeführt werden, das keinerlei Finanzierung aus dem Ausland erhält. Auch das Jugend-MEMORIAL "lebt, es beendet nur seine Existenz als juristische Person..... Wir werden weiterleben und weiter arbeiten."

Mittwoch, 10. Februar 2016

Gericht in Tatarstan verfügt Auflösung von "AGORA"

Erneuter Schlag gegen russische Zivilgesellschaft

 

Das Oberste Gericht von Tatarstan hat heute auf Antrag des russischen Justizministeriums die Auflösung der Menschenrechtsorganisation AGORA verfügt, die ihren Sitz in Kasan hat.

AGORA ist eine NGO von Juristen und Anwälten, die unentgeltliche Rechtshilfe leistet und in mehreren Regionen juristische Aufklärung durchführt.

Sie wurde im Juli 2014 als „ausländischer Agent“ verzeichnet und hat diese Entscheidung erfolglos angefochten. Danach hat sie versucht, ihre Austragung aus dem Register zu erreichen. Wie der frühere Leiter von AGORA, Pawel Tschikow, erklärte, bekommt AGORA seit fast einem Jahr keinerlei finanzielle Unterstützung mehr (auch nicht aus dem Ausland).

Das Justizministerium begründete seinen Antrag damit, dass AGORA versuche, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen und sich zugleich um eine Austragung aus dem „Agentenregister“ bemühe, in das sich die Organisation auch nicht freiwillig habe eintragen lassen. Die Tätigkeit der Organisation "bedroht die nationale Sicherheit, die Grundlagen der Verfassungsordnung, Leben und Gesundheit anderer Bürger. Ihre Verstöße sind irreparabel."

Der Anwalt von AGORA, Ramil Achmetgaliew, bestreitet diese Vorwürfe, nicht zuletzt unter Hinweis auf die zahlreichen Überprüfungen, denen AGORA in den letzten Jahren unterzogen wurde. Danach hätten Gerichte zwar wiederholt Gesetzesverstöße auf Seiten der Überprüfungsinstanzen moniert, allerdings habe es keine Beanstandungen der Tätigkeit von AGORA gegeben. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, AGORA wird sie beim Obersten Gericht der Russischen Föderation anfechten.

In Menschenrechtskreisen hat die Gerichtsentscheidung Bestürzung und Proteste ausgelöst. Die Menschenrechtsbeauftragte Ella Pamfilowa sieht darin die Folge einer zu breiten Auslegung des Begriffs der „politischen Tätigkeit“: „Auf der Grundlage einer willkürlichen Auslegung ist eine unbequeme Menschenrechtsorganisation aufgelöst worden. Die heutige Entscheidung ist ein deutliches Indiz für einen systemischen Mangel, den wir leider bisher nicht beseitigen konnten.“ Tatjana Lokshina von Human Rights Watch sprach von einem „Schlag gegen die Zivilgesellschaft“.

Pawel Tschikow spricht von einem „unmittelbaren Auftrag des Bundes[justiz]ministeriums. Es gibt ganz offensichtlich eine kleine Shortlist führender Menschenrechtsorganisationen, die mit allen Mitteln vernichtet werden sollen. Dazu gehören das Komitee gegen Folter, Memorial, Golos und AGORA – das ist das Minimum.“

10. Februar 2016

MEMORIAL Petersburg gewinnt Verwaltungsverfahren

Das wissenschaftliche Informationszentrum MEMORIAL Petersburg (NITs), das im November letzten Jahres als "ausländischer Agent" verzeichnet worden war, hat einen juristischen Erfolg erzielt. Ein Petersburger Bezirksgericht hat das Verfahren niedergeschlagen, das das Justizministerium Ende November gegen MEMORIALeingeleitet hatte.

Das Ministerium warf MEMORIAL einen angeblichen Verstoß gegen das Verwaltungsstrafrecht vor, da sich die Organisation nicht selbst als "ausländischer Agent" hatte registrieren lassen. In solchen Fällen droht eine Geldstrafe von 300.000 bis 500.000 Rubeln.

5. Februar 2016

Mittwoch, 3. Februar 2016

MEMORIAL Rjasan als "ausländischer Agent" registriert


Am 1. Februar hat das russische Justizministerium der MEMORIAL Rjasan als „ausländischer Agent“ verzeichnet. Der Verband hatte zuvor eine Verwarnung erhalten, unter anderem mit dem Vorwurf, dass er sich nicht selbst als „ausländischer Agent“ hatte registrieren lassen, und mit der Auflage, dieser und weiteren Beanstandungen bis zum 31. März nachzukommen.

MEMORIAL beabsichtigt, die Verwarnung anzufechten. Das Justizministerium hat weder dies noch eine mögliche Beseitigung der beklagten Mängel abgewartet, sondern den Verband sogleich in das „Agenten“-Register aufgenommen.

Vor kurzem hatte die regionale Ausgabe der "Novaja gazeta" MEMORIAL nach einer Abstimmung von Lesern zur "Organisation des Jahres" erklärt.

Die Erklärung von MEMORIAL Rjasan aus diesem Anlass finden Sie im Original hier, in deutscher Übersetzung von Jens Siegert hier

3. Februar 2016

Montag, 25. Januar 2016

KGB-Akten bis 2044 gesperrt

Petition für die Freigabe der Akten zurückgewiesen

Sowjetische Geheimdienstakten sollen bis 2044 unter Verschluss bleiben. Dies teilten die russischen Behörden kürzlich dem Vorsitzenden der Juristenvereinigung „Kommando 29“, Iwan Pawlow, mit. Damit bleibt die Verfügung aus dem Jahre 2014 in Kraft.

Iwan Pawlow hatte eine Petition für eine Freigabe der Akten gestartet und über 60.000 Unterschriften gesammelt.

In der Begründung für ihre Entscheidung betont die russische Kommission für den Schutz von Staatsgeheimnissen, Informationen über die Tätigkeit der Staatssicherheitsorgane von 1917 bis 1991 seien nach wie vor aktuell. Ihre Verbreitung gefährde die nationale Sicherheit. Nicht betroffen davon seien hingegen Unterlagen zu Massenrepressionen, darunter Gesetze und andere Rechtsakte, die dem Regime als Grundlage für Verfolgungen gedient hatten. Präsident Jelzin hatte bereits 1992 die Freigabe dieser Akten verfügt.

Iwan Pawlow widerspricht dieser Aussage mit dem Hinweis darauf, dass ein Brief von Jezhow, der den Anstoß für das Verfahren gegen die „Harbiner“ gegeben habe (mit dem Ergebnis, das etwa 20.000 Menschen erschossen wurden), eben mit dem Hinweis auf die Verfügung von 2014 nicht freigegeben worden sei.

Pawlow beabsichtigt, die Entscheidung der Kommission vor Gericht anzufechten.

23. Januar 2016

Samstag, 23. Januar 2016

Vorschlag zur Änderung des "Agentengesetzes"

Justizministerium definiert "politische Tätigkeit"

Im November 2012 trat das berüchtigte „Agentengesetz" in Kraft, demzufolge russische Nichtregierungsorganisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten und „politisch tätig“ sind, als „ausländische Agenten" registriert und diskriminiert werden.

Wiederholt war kritisiert worden, der Begriff der „politischen Tätigkeit" sei schwammig und zu ungenau, er müsse präziser bestimmt werden. Präsident Putin hatte bereits 2014 eine diesbezügliche Revision angekündigt.

Nunmehr hat das Justizministerium Änderungsvorschläge für den entsprechenden Passus im „Agentengesetz" vorgelegt, die eine genauere Definition enthalten sollen. Es nennt sieben Kennzeichen für "politische Tätigkeit".

 NGOs sind demnach "politisch tätig", wenn sie

- öffentliche Veranstaltungen durchführen – Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Mahnwachen, öffentliche Vorträge und Diskussionen,
- mit ihrer Tätigkeit ein bestimmtes Ergebnis anstreben, etwa bei Wahlen oder Referenden, wenn sie Wahlbeobachtungen durchführen, Wahlkommissionen bilden oder in politischen Parteien mitarbeiten,
- sich in öffentlichen Aufrufen an Staatsorgane, staatliche Angestellte, lokale Behörden wenden oder andere Aktionen durchführen, um sie zu beeinflussen (z. B. im Bereich der Gesetzgebung),
- ihre Auffassungen über politische Entscheidungen der Staatsorgane in den Medien verbreiten,
- die öffentliche Meinung etwa durch die Durchführung und Veröffentlichung von Umfragen oder anderen soziologischen Untersuchungen beeinflussen,
- andere Bürger, darunter Minderjährige, zu dieser Tätigkeit heranziehen,
- diese Tätigkeit finanzieren.

Aktivitäten im Bereich von Wissenschaft, Kultur, Kunst, Gesundheit, Sport, Umwelt sowie im gemeinnützigen und sozialen Bereich gelten nicht als politisch, es sei denn, sie verfolgten Ziele, wie sie im zweiten Punkt genannt sind.

MEMORIAL International hat dazu bereits 2013 eindeutig erklärt, dass das "Agentengesetz" auch durch Korrekturen nicht "akzeptabel" werden kann. Es muss aufgehoben werden. Diese Forderung vertrat auch Ljudmila Alexejewa, die Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe, auf der Sitzung des Menschenrechtsrats beim Präsidenten in dessen Beisein am 1. Oktober letzten Jahres.

22. Januar 2016

"Komitee zur Verhinderung von Folter" als "ausländischer Agent" registriert

Vor wenigen Tagen wurde das Komitee zur Verhinderung von Folter zum „ausländischen Agenten“ erklärt.

Dieses Komitee ist neben einer Reihe weiterer Organisationen aus dem „Komitee gegen Folter“ hervorgegangen, das sich – eben wegen der Registrierung als „ausländischer Agent“ und den sich daraus ergebenden Konsequenzen – im letzten Jahr aufgelöst hatte.

Das Komitee zur Verhinderung von Folter verfügt über keine ausländische finanzielle Förderung und lebt ausschließlich von Spendengeldern aus Russland. Dennoch hat das Justizministerium nach einer Überprüfung entschieden, es als „Agenten“ zu verzeichnen. Als Begründung dient das Argument, dass seine russischen Spender bei Organisationen arbeiteten, die aus dem Ausland finanziert würden.

„Offenbar hätten wir auch noch überprüfen müssen, wo die Personen arbeiten, die uns Spenden überwiesen haben, und darüber hinaus feststellen, aus welchen Quellen sich ihr Arbeitgeber finanziert“, kommentierte der Leiter des Komitees Igor Kaljapin.

Kaljapin versicherte, dass das Komitee das Etikett des „ausländischen Agenten“ im eigenen Land nie akzeptieren werde. Die Arbeit des Komitees solle in jedem Fall fortgesetzt werden.

17. Januar 2016

Bücherverbrennung in Komi

Von Soros-Stiftungen geförderte Publikationen sollen aus Bibliotheken entfernt werden

Im letzten Jahr sind zwei Organisationen von George Soros – die „Open Society Foundations“ und „OSI Assistance Foundation“ - in Russland zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt worden, weil sie entsprechend dem neuen Gesetz die russische Verfassungsordnung gefährden.

Stiftungen von Soros haben in Russland in großem Umfang kulturelle und wissenschaftliche Projekte gefördert, darunter auch zahlreiche Buchpublikationen.

In der Republik Komi sind inzwischen auf höhere Anweisung etliche dieser Publikationen aus mehreren Bibliotheken entfernt worden. Sie wurden ausgetragen und sollen vernichtet bzw. als Altpapier verwertet werden, 53 Bücher aus der Bibliothek einer Berufsschule für Bergbau in Workuta wurden verbrannt.

Die Anordnung kam vom Bevollmächtigten des Präsidenten für Komi. Dessen Stellvertreter Andrej Trawnikow wies in einem Schreiben vom November 2015 darauf hin, dass diese (von Soros-Stiftungen geförderten) Publikationen „bei der Jugend zu einer verzerrten Wahrnehmung der vaterländischen Geschichte führen“ und Vorstellungen vermitteln, die „der russischen Ideologie fremd“ seien. Daher seien sie unbedingt aus den Bibliotheken zu entfernen.

Der russische Kulturminister Wladimir Medinskij betonte inzwischen, eine Bücherverbrennung "sieht so schlecht aus und weckt so befremdliche historische Assoziationen, dass das meiner Auffassung nach absolut unzulässig ist". Er sagte eine Überprüfung dieser Berichte zu.

16. Januar 2016

Urteil in Strasbourg zum staatlichen Vorgehen auf dem Bolotnaja-Platz

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte gibt russischem Kläger Recht

Das Europäische Gericht für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg hat am 5. Januar der Klage von Jewgenij Frumkin stattgegeben. Frumkin, der der Partei „Demokratische Union“ angehört, hatte gegen das Vorgehen der russischen Behörden im Zusammenhang mit der Kundgebung am Bolotnaja-Platz am 6. Mai 2012 (gegen Fälschungen bei den vorangegangenen Parlaments- und Präsidentenwahlen) geklagt.

Es ging um einen Demonstrationszug mit einer Abschlusskundgebung. Frumkin hatte nur an letzterer teilnehmen wollen, war jedoch festgenommen und zunächst für zwei Tage (bis 8. Mai) in Haft gehalten worden. Danach wurde er zu 15 Tagen Haft als Ordnungsstrafe (nach Art. 19.3 Verwaltungsstrafrecht) verurteilt.

Dieses Urteil hatte Frumkin vergeblich bei höheren russischen Instanzen angefochten und schließlich am 9. November 2012 auch beim EGMR. Dort liegen etliche weitere Klagen im Zusammenhang mit den Bolotnaja-Verfahren vor von Demonstranten, die ebenfalls mit Ordnungsstrafen (einschließlich Haft) belegt wurden sowie von Personen, die strafrechtlich verurteilt wurden.

Laut Urteil des EGMR wurden im Falle von Frumkin mehrere Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt: das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5), das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6) sowie das Recht zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11).

Das Gericht hat die Vorgänge im Zusammenhang mit dem 6. Mai 2012 – auch die Vorgeschichte - im Detail untersucht. Geplant war eine Demonstration mit einer Abschlusskundgebung auf dem Bolotnaja-Platz. Beides war genehmigt, die Schlusskundgebung kam jedoch nicht mehr zustande. Anders als vorgesehen und abgesprochen sperrten die Behörden einen Teil des Bolotnaja-Platzes – die Grünanlage – ab. In der Folge kam es zu Gedränge, an einigen Stellen wurde die Polizeiabsperrung zeitweise durchbrochen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen.

Nach Auffassung des Gerichts haben die Behörden nichts unternommen, um den entstehenden Konflikt zu deeskalieren, sie hielten keinerlei Kontakt mit den Organisatoren der Kundgebung, um mögliche Übergriffe zu verhindern. Dadurch sind sie ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen, die friedliche Durchführung der Aktion zu gewährleisten.

Jevgnij Frumkin habe sich auf einem Gebiet befunden, das für die Kundgebung reserviert worden war und keinerlei Gewalt angewandt. Die Sanktionen gegen ihn trügen einen abschreckenden Charakter, mit dem offensichtlichen Ziel, den Kläger und andere Personen von weiteren Protestkundgebungen und oppositionellen Aktivitäten abzuhalten. Weder hätten die Behörden ein gesetzwidriges Verhalten Frumkins bewiesen noch hätten sie überhaupt eine Begründung dafür abgegeben, dass er 36 Stunden in Polizeigewahrsam gehalten wurde. Bei seiner Verurteilung zu 15 Tagen Haft habe die Schuldfrage gar keine Rolle gespielt.

Das EGMR sprach Frumkin eine Zahlung von 25.000 Euro zu. Darüber hinaus muss der russische Staat die Verfahrenskosten übernehmen (7.000 Euro).

Insgesamt sind im „Bolotnaja-Verfahren“ bisher 19 Personen zu Haftstrafen verurteilt worden. Einige haben ihre Haftzeit bereits verbüßt. 13 weitere Personen waren im Rahmen einer Amnestie Ende 2013 freigekommen. Ende 2015 wurde Dmitrij Butschenkow verhaftet, der indes behauptet, am 6. Mai nicht auf dem Bolotnaja-Platz gewesen zu sein. Die bisher letzte Verurteilung erfolgte am 22.12.2015. An diesem Tag wurde Iwan Nepomnjaschtschich nach 22 Monaten Hausarrest zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

13. Januar 2016

MEMORIAL Rjasan "Organisation des Jahres"

Die regionale Ausgabe der „Novaja gazeta“ hat MEMORIAL Rjasan zur „Gesellschaftlichen Organisation des Jahres“ erklärt. Journalisten und eine Expertengruppe aus Lesern der Zeitung hatten eine Kandidatenliste für diese Nominierung erstellt. Aus dieser Liste konnten die Leser eine Organisation auswählen. Ihre Entscheidung fiel zugunsten von MEMORIAL Rjasan.


Die „Novaja gazeta“ hält dazu fest:
MEMORIAL Rjasan „hat sich in diesem Jahr für die Schaffung von Wohnraum für Waisen und für Barrierefreiheit für Gehbehinderte eingesetzt. Es hat die Aktion „Rückgabe der Namen“ zum Gedenken an politisch Verfolgte fortgeführt. Die Bedeutung von MEMORIAL für das öffentliche Leben der Region kann nicht hoch genug eingeschätzt werdenhttp://novgaz-rzn.ru/nomer28122015_52/2464.html.“ 

15. Januar 2016

Menschenrechtszentrum MEMORIAL wendet sich an Generalstaatsanwalt Tschajka

Staatsanwaltschaft soll mögliche Verletzung der Verfassung und Überschreitung ihrer Vollmachten durch Beamte des Justizministeriums untersuchen

Nach einer planmäßigen Überprüfung im Oktober hatte das Justizministerium das Menschenrechtszentrum MEMORIAL beschuldigt, "die Grundlagen der verfassungsrechtlichen Ordnung der Russischen Föderation zu untergraben" und zum "Sturz der amtierenden Regierung sowie zu einer Änderung des politischen Regimes im Lande aufzurufen".

Begründet wird dies u. a. mit kritischen Stellungnahmen der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL (also nicht des Menschenrechtszentrums) zur russischen Haltung gegenüber der Ukraine und zum Bolotnaja-Verfahren gegen Teilnehmer an der Demonstration vom 6. Mai 2012. Außerdem wird auf das Projekt "Verteidigung der Menschenrechte" verwiesen, das vorsieht, im Internet über die Tätigkeit des Menschenrechtszentrums MEMORIAL zu informieren. Darüber hinaus sollen Dokumente, die das Menschenrechtszentrum im Laufe seiner 15jährigen Arbeit im Nordkaukasus zusammengestellt hat, systematisiert, digitalisiert und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Da die Beschuldigungen des Justizministeriums jeder Grundlage entbehren, hat sich  der Vorsitzende des Rats der Organisation, Alexander Tscherkassow, am 28. Dezember an die Generalstaatsanwaltschaft gewandt. Er wies darauf hin, dass Beamte des russischen Justizministeriums "ihre Kompetenzen und dienstlichen Vollmachten überschritten und gegen die Verfassung verstoßen" hätten.

"Amtspersonen staatlicher Organe sind nicht berechtigt, bei Ausübung ihrer Befugnisse das Grundgesetz des Landes zu verletzen und ihre dienstlichen Vollmachten zu nutzen, um Mitglieder gesellschaftlicher Organisationen zu diskreditieren, die im Rahmen der russischen Verfassung tätig sind… Die Tätigkeit des Menschenrechtszentrums MEMORIAL, wie im Überprüfungsakt beschrieben, steht vollkommen im Einklang mit … den Bestimmungen der russischen Verfassung. Wenn unsere Organisation auf Verstöße und Mängel hinweist und die legislativen, exekutiven und judikativen staatlichen Organe kritisiert, ist das nicht nur gesetzeskonform, sondern leistet einen Beitrag zur demokratischen Entwicklung des Landes."

Tscherkassow fordert die Generalstaatsanwaltschaft auf, zu überprüfen, inwieweit das Vorgehen der Beamten des Justiziministeriums gesetzeskonform war, und je nach dem Ergebnis mit entsprechenden Maßnahmen zu reagieren.

30.12.2015

Proteste gegen die Verurteilung von Ildar Dadin

Das Menschenrechtszentrum MEMORIAL fordert unverzügliche Freilassung

Die Verurteilung von Ildar Dadin zu drei Jahren Haft hat etliche Proteste ausgelöst. Es kam zu Kundgebungen, vor allem Einzelmahnwachen, in mehreren Städten, darunter St. Petersburg und Jekaterinburg.

Das Menschenrechtszentrum MEMORIAL forderte in der nachstehenden Erklärung Dadins unverzügliche Freilassung sowie die Abschaffung des Artikels 212.1, nach dem er verurteilt wurde:

"Am 7. Dezember hat Natalija Dudar, Richterin des Basmannyj-Gerichts Moskau, das erste Urteil nach Art. 212.1 StGB RF gefällt (wiederholter Verstoß gegen die Vorschriften zur Organisation oder Durchführung von Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Märschen oder Mahnwachen). Sie hat Ildar Dadin schuldig gesprochen und ihn zu drei Jahren Freiheitsentzug in einer Kolonie gewöhnlichen Regimes verurteilt.

Dieses Urteil ist eine besonders zynische Attacke gegen Bürgerrechte und Freiheiten, eine Beleidigung gegen die Idee der Rechtssprechung, selbst wenn man es mit anderen politisch motivierten und in unseren Augen ungesetzlichen Urteilen vergleicht. Zwei der vier Vorfälle, die Dadin zur Last gelegt werden, waren Einzelmahnwachen, die nicht einmal gegen die „drakonische“ Gesetzgebung der Russischen Föderation über öffentliche Veranstaltungen verstoßen. Ein weiterer Vorfall hatte überhaupt nichts mit einer solchen Aktion zu tun.

Das Menschenrechtszentrum MEMORIAL hat den Artikel 212.1 StGB der RF bereits kritisiert. Er soll ganz offensichtlich dem Zweck politischer Verfolgungen dienen. Er ist verfassungswidrig und unrechtmäßig, da er

- die wiederholte Bestrafung für ein und denselben Rechtsverstoß vorsieht;

- das Vorliegen eines Straftatbestandes davon abhängig macht, dass die Person ordnungsrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde und sie damit der Garantien beraubt, die in der Strafprozessordnung festgeschrieben sind;

- das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz verletzt, indem er eine wiederholte Ordnungswidrigkeit, die die Persönlichkeit des Delinquenten charakterisiert, zum einzigen qualifizierenden Merkmal für die Begehung einer Straftat macht;

- eine Verantwortung festschreibt, die offensichtlich nicht dem anzunehmenden Gefährlichkeitsgrad für die Gesellschaft entspricht;

- entgegen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Russischen Föderation und der Haltung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ohne hinreichenden Grund die Freiheit friedlicher Versammlungen einschränkt.

Beim Prozess war es bezeichnenderweise gerade Ildar Dadin selbst, und nicht die Anklagevertretung und das Gericht, der eine Position vertrat, die auf der Verfassung der Russischen Föderation basiert, indem er an die Rechte und Freiheiten der Bürger appellierte.

Wer nach Art. 212.1 StGB zur Verantwortung gezogen wird, ist für das Menschenrechtszentrum MEMORIAL jemand, der ungesetzlich und aus politischen Gründen verfolgt wird. Jeder, der auf dieser Grundlage der Freiheit beraubt wird, ist ein politischer Gefangener.

Wir fordern die unverzügliche Einstellung des Verfahrens gegen Ildar Dadin, seine bedingungslose Freilassung und die Streichung des Artikels 212.1 aus dem russischen Strafgesetzbuch."

9. Dezember 2015

Skandalöses Urteil in Moskau

Ildar Dadin zu drei Jahren Haft verurteilt


Das Moskauer "Basmannyj"-Bezirksgericht hat am heutigen 7. Dezember Ildar Dadin zu drei Jahren Straflager verurteilt.

Dadin ist der erste, die nach Artikel 212.1 verurteilt wurde, einem neuen Artikel des Strafgesetzbuchs, der 2014 eingeführt wurde. Er sieht für "mehrfachen Verstoß gegen die Vorschriften zur Organisation oder Durchführung von Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Märschen oder Mahnwachen" hohe Geldstrafen, verschiedene weitere Sanktionen bis zu einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren vor.

Ildar Dadin saß seit Anfang Februar im Hausarrest, nachdem ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet worden war. Zur Last gelegt wurden ihm vier Protestaktionen (vom 6. und 23. August, 13. September und 5. Dezember 2014). Artikel 212 kann Anwendung finden, wenn eine Person innerhalb von 180 Tagen mehr als zweimal wegen Verstößen bei Versammlungen administrativ belangt wurde.

Der Staatsanwalt hatte ursprünglich zwei Jahre Freiheitsentzug gefordert. Die Richterin, Natalja Dudar, ging jedoch über diesen Antrag hinaus und verurteilte Dadin zu drei Jahren Lagerhaft in gewöhnlichem Regime. Das Urteil stieß auf heftige Proteste, Anwesende gaben ihrer Empörung lautstark Ausdruck und riefen wiederholt "Schande" und "Faschisten".

Dadin selbst hatte betont, er sei bereit, für seine Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen. Er wurde unmittelbar nach der Urteilsverkündung in Haft genommen.

Das Menschenrechtszentrum MEMORIAL rechnet Ildar Dadin wie auch Vladimir Ionov und Mark Galperin (denen derselbe Artikel zur Last gelegt wird) zu politisch Verfolgten. Artikel 212.1 sei rechtswidrig, er verstoße gegen elementare Rechtsregeln, allein schon dadurch, dass ein und dieselbe Tat mehrfach geahndet werden könne, eine Auffassung die auch der russische Anwalt Jurij Kostanow in einer Stellungnahme vertritt.

7. Dezember 2015

Oberstes Gericht in Russland gibt NGO Recht

Geldstrafe muss zurückerstattet werden

Das "Institut für regionale Presse", eine russische Nichtregierungsorganisation, hat ein Verfahren beim Obersten Gericht gewonnen.

Der NGO war eine Geldstrafe von 400.000 Rubeln auferlegt worden, weil sie sich nicht in das berüchtigte Register für angebliche "ausländische Agenten" hatte eintragen lassen. Diese Entscheidung wurde in allen Instanzen bestätigt, bis das Oberste Gericht sie jetzt außer Kraft setzte. Es stellte auch das Administrativverfahren ein, da kein Straftatbestand vorliege.

Die bereits geleistete Strafzahlung muss zurückerstattet werden.

7. Dezember 2015

Präsentation von Andrzej Wajdas "Katyn" in Petersburg untersagt

Das russische Kultusministerium hat untersagt, Andrzej Wajdas Film „Katyn“ in den Räumlichkeiten des Wissenschaftlichen Informationszentrums von MEMORIAL Petersburg zu zeigen. Die Organisation habe hierfür nicht die Berechtigung des Ministeriums (die nach einer Gesetzesnovelle des letzten Jahres erforderlich ist). In dem Schreiben der Behörde, das Memorial heute erhielt,  steht im übrigen fälschlich „Chatyn“ statt „Katyn“. Ein Verstoß wird mit administrativen Geldstrafen geahndet.


Wajdas Film ist in Russland bereits mehrfach gezeigt worden, auch im staatlichen Fernsehen; allerdings wurde eine geplante Vorführung im Oktober dieses Jahres aus denselben Gründen unterbunden.

Das Joffe-Zentrum hat die Präsentation abgesagt und bekannt gegeben, die Frage mit dem Ministerium zu klären.

Am Abend des 26. November tauchten indes ein Vertreter des örtlichen Staatsanwalts unter Begleitung von sieben Polizisten beim NITs auf, angeblich um sich zu vergewissern, dass der Film tatsächlich nicht gezeigt wurde. Bei der Gelegenheit erzwangen sie sich auch zu den anderen Räumlichkeiten der Organisation gewaltsam Zutritt.

26. November 2015

Verwarnung des Menschenrechtszentrums MEMORIAL

Verwarnung enthält nicht mehr den Vorwurf, die "verfassungsrechtliche Ordnung zu untergraben"

Das russische Justizministerium beschuldigt das Menschenrechtszentrum MEMORIAL offenbar nicht mehr, die verfassungsrechtliche Ordnung in Russland zu untergraben. Dies meldet heute die Zeitung Kommersant.

Dem Bericht zufolge ist dieser Vorwurf in der Verwarnung, die das Menschenrechtszentrum heute erhielt, nicht mehr enthalten. Es gehe nur noch um eine Reihe von Beanstandungen an der Satzung der Organisation. Hier sind Korrekturen und Anpassungen erforderlich, zum Teil infolge von Änderungen in der russischen Gesetzgebung.

Alexander Tscherkassow hält die Forderungen des Justizministeriums weitgehend für unbegründet und überflüssig: "Das Justizministerium wünscht, dass in der Satzung fast das gesamte Bürgerliche Gesetzbuch abgedruckt wird, aber dieses Problem haben nicht nur NGOs, sondern alle juristischen Personen."

Die ursprünglichen Vorwürfe gegen das Menschenrechtszentrum, die in dem Überprüfungsbericht des Justizministeriums enthalten waren, hatten Unruhe und Proteste im In- und Ausland ausgelöst. Thorbjørn Jagland, der Generalsekretär des Europarats, hatte die russischen Behörden dazu aufgerufen, russische Menschenrechtsaktivisten, darunter auch MEMORIAL zu schützen. Sowohl in Russland als auch in anderen Ländern kam es zu Mahnwachen und Protestkundgebungen.

Arsenij Roginskij hatte sich am 19. November an den Justizminister gewandt und an ihn appelliert, den Bescheid zu annullieren, "zumindest in dem Teil, der die absurden politischen Beschuldigungen enthält".

23. November 2015

Vorgehen des Justizministeriums untergräbt Vertrauen in die Verfassung

Schreiben von Arsenij Roginskij an den russischen Justizminister

Angesichts der skandalösen Beschuldigungen gegen das Menschenrechtszentrum MEMORIAL hat sich Arsenij Roginskij am 19. November mit dem folgenden Schreiben an den russischen Justizminister Alexander Konowalow gewandt und an ihn appelliert, den Bescheid gegen MEMORIAL zu annullieren.


"Sehr geehrter Herr Minister,

eine schwerwiegende Irritation, die durch Ihre Angestellten entstanden ist, veranlasst mich zu diesem Schreiben an Sie.

Im Oktober dieses Jahres führte das Justizministerium eine planmäßige Überprüfung des Menschenrechtszentrums MEMORIAL durch. Diese Organisation ist Mitglied der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL für historische Aufklärung, soziale Fürsorge und Menschenrechte, deren Vorstand ich leite.

Der Überprüfungsbescheid (Nr. 77/03-47960 vom 30. Oktober) enthält vor allem Hinweise auf Korrekturen, die in der Satzung im Zusammenhang mit Änderungen der Gesetzgebung vorzunehmen sind. Das ist nichts Unerwartetes, diese Anpassungen sollten ohnehin auf der nächsten Vollversammlung beschlossen werden. Gegen einige weitere Beanstandungen, mit denen unsere Kollegen vom Menschenrechtszentrum nicht einverstanden sind, wird Widerspruch eingelegt.

Angesichts dieser rein routineartigen Bemerkungen ist jedoch das Urteil frappierend, die in Art. 10-11 des Bescheids steht: 'Mit ihrem Verhalten haben die Mitglieder des Menschenrechtszentrums MEMORIAL die Grundlagen der Verfassungsordnung der Russischen Föderation untergraben. Sie haben zum Umsturz der amtierenden Regierung und zu einer Änderung des politischen Regimes im Lande aufgerufen.'

Als Begründung für diese fantastischen Beschuldigungen führen die Mitarbeiter des Justizministeriums mehrere Bewertungen und Einschätzungen an, die MEMORIAL publiziert hat:

- die Behauptung (vom 29.8.2014), dass russländische Soldaten unmittelbar im militärischen Konflikt in der Ost-Ukraine beteiligt sind und die Aktionen Russlands gegen die Ukraine der Definition entsprechen, wie sie in der Resolution der UNO-Vollversammlung vom 14. Dezember 1974 für eine Aggression formuliert wurde.

- die Ablehnung des nach Auffassung von MEMORIAL unrechtmäßigen Urteils im Bolotnaja-Verfahren (24.2.2014).

Sich kritisch über Maßnahmen der Regierung zu äußern, ist demnach für Mitarbeiter des Justizministeriums gleichbedeutend mit dem 'Untergraben der Grundlagen der Verfassungsordnung' und einem 'Aufruf zum Umsturz'.

Diese „Rechts“-Logik erinnert nicht nur an die Zeiten der Sowjetmacht, als das Andersdenken mit dem Untergraben der sozialistischen Ordnung identifiziert wurde, sondern es versetzt uns direkt in diese Epoche zurück.

Die Verfassung der Russischen Föderation garantiert die Freiheit des Denkens und des Wortes, die Freiheit, Informationen zu suchen, zu erhalten und zu verbreiten (Art. 29), die Vereinigungsfreiheit (Art. 30). Meine Kollegen vom Menschenrechtszentrum MEMORIAL üben ihre von der Verfassung garantierten Rechte aus, wenn sie die bei ihrer Arbeit gesammelten Fakten darlegen und ihre Meinung und Einschätzung öffentlich zum Ausdruck bringen. Die Formulierungen des Justizministeriums in dem Überprüfungsbescheid für das Menschenrechtszentrum MEMORIAL sind nichts anderes als der Versuch, die verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten einzuschränken. Das ist ausdrücklich von der Verfassung untersagt. Ob Ihre Angestellten das aus Unwissen oder in böser Absicht tun, ist mir unbekannt.

Darüber hinaus sind den Verfassern des Bescheids mehrere eindeutige Fehler unterlaufen, sei es aus Eile oder infolge ihrer Voreingenommenheit. So werden dem Menschenrechtszentrum MEMORIAL Aussagen einer ganz anderen Organisation, nämlich der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL, zugeschrieben. Im Übrigen sind das natürlich Kleinigkeiten m Vergleich zu den oben genannten politischen Formulierungen.

Sehr geehrter Herr Minister! Ich wende mich an Sie mit der Bitte, den Überprüfungsbescheid für das Menschenrechtszentrum MEMORIAL vom 30. Oktober 2015 zu annullieren (zumindest im dem Teil, der die absurden politischen Beschuldigungen enthält) und eine dienstliche Untersuchung anzuordnen, wie ein Dokument mit derartigen Formulierungen überhaupt erstellt werden konnte. Derartige Überprüfungsbescheide schaden nicht nur den gesellschaftlichen Organisationen, gegen die sie sich richten. Sie untergraben auch das Vertrauen zu dem von Ihnen geleiteten Ministerium, vor allem aber erschüttern sie das Vertrauen in die Verfassung. Und das ist nicht ungefährlich.

Mit freundlichen Grüßen

Arsenij Roginskij
Vorsitzender des Vorstands der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL"

19. November 2015

Auszeichnung für Svetlana Gannuschkina und Alexander Gurjanow

Zwei namhafte Mitglieder von MEMORIAL sind mit dem Jegor-Gajdar-Preis ausgezeichnet worden: Svetlana Gannuschkina und Alexander Gurjanow.

 
 Svetlana Gannuschkina, Alexander Gurjanow

Der Jegor-Gajdar-Preis wird seit 2010 jährlich an vier Personen für Verdienste in den Bereichen Geschichte, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und internationale humanitäre Kontakte mit Russland verliehen. Weitere Preisträger in diesem Jahr sind der Demograf Anatolij Wischnewskij und der ehemalige deutsche Botschafter in Russland, Ernst-Jörg von Studnitz.

Svetlana Gannuschkina erhielt den Preis für ihren Einsatz für die "Entwicklung einer Zivilgesellschaft". Für seinen "überragenden Beitrag" auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft wurde Alexander Gurjanow ausgezeichnet. Gurjanow arbeitet seit Jahren an historischen MEMORIAL-Projekten zur russisch-polnischen Geschichte und hat maßgeblich an dem am 17. September vorgestellten Gedenkband für die Opfer von Katyn mitgewirkt.

Svetlana Gannuschkina bedankte sich mit den Worten, die Ehrung sei "Audruck der Solidarität, der Solidarität mit uns, mit unserem - ich möchte nicht sagen Kampf - mit unserer Arbeit, mit unserem Wirken für unsere Gesellschaft, für unser Land, für unsere Verfassung."

18. November 2015