Donnerstag, 30. Januar 2014

Repressives Gesetzespaket in der Ukraine zurückgenommen

Vertreter der ukrainischen Opposition haben sich mit Janukovitsch über die Aufhebung einer Serie repressiver Gesetze geeinigt, die am 16. Januar verabschiedet worden waren.

Hierzu wurde eine „politische Entscheidung“ gefällt, so die Justizministerin der Ukraine, Jelena Lukasch. Allerdings würden die Gesetze, gegen die keine Einwände bestünden, erneut verabschiedet. Sie sagte zu, dass die Bestimmungen der aufgehobenen Gesetze gemeinsam revidiert würden, um zu garantieren, dass sie europäischen Standards entsprechen.

Offensichtlich gilt dies auch für das NGO-Gesetz, das im Rahmen dieses Pakets beschlossen worden war und das eine Kopie des umstrittenen "Agentengesetzes" in Russland darstellt.

Samstag, 25. Januar 2014

ADZ MEMORIAL geht in Revision

Klage gegen diffamierendes Urteil eingereicht


Wie angekündigt, ist das Antidiskriminierungszentrum (ADZ) Memorial St. Petersburg inzwischen am 17. Januar gegen die Gerichtsentscheidung vom 12. Dezember letzten Jahres in Revision gegangen.

Das ADZ erklärte dieses Urteil (das den Verein als „ausländischen Agenten" definiert und ihn zur Registrierung als solchen verpflichtet) für ungesetzlich und unbegründet. Das Gericht habe juristisch wesentliche Umstände falsch eingeschätzt und das Gesetz sowie Normen des internationalen Rechts (mehrere Artikel der Europäischen Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten) falsch ausgelegt.

Die Schlussfolgerungen des Gerichts stünden im Widerspruch zu denen des Lenin-Bezirksgerichts vom 7. Oktober. Das Bezirksgericht hatte die Überprüfung des ADZ durch die Staatsanwaltschaft für ungesetzlich und unbegründet erklärt. Das Stadtgericht hatte diese Entscheidung am 16. Dezember bestätigt.

Das ADZ wies nochmals darauf hin, dass ihm allein der Bericht an das UN-Komitee gegen Folter als Beleg für eine Tätigkeit als „ausländischer Agent“ zur Last gelegt worden war. Dieser Bericht war 2012 erstellt und bereits am 18. November 2012 auf der Sitzung des Komitees in Genf vorgestellt worden, also vor Inkrafttreten des „Agentengesetzes“ am 21. November, eine Tatsache, die das Gericht unberücksichtigt ließ.

Die Arbeit der Organisation zum Schutz gefährdeter Minderheiten könne zudem nicht als „politische Tätigkeit“ im Sinne des NGO-Gesetzes definiert werden. Das angefochtene Gerichtsurteil verfolge das ADZ für seinen Kontakt mit dem UN-Komitee und die Übermittlung von Informationen.

Donnerstag, 23. Januar 2014

Erklärung von MEMORIAL International zur Entwicklung in der Ukraine



In den letzten Tagen sind die friedlichen Proteste in der ukrainischen Hauptstadt in Gewalt von beiden Seiten umgeschlagen. Die Verantwortung hierfür liegt in erster Linie und vorwiegend bei den Machthabern der Ukraine.

Denn gerade ihre unbesonnenen Aktionen haben die Konfrontation immer wieder verschärft. Der ursprüngliche Auslöser für die derzeitige Krise war der plötzliche radikale politische Kurswechsel, den das Land am 21. November 2013 vollzogen hat.

Ein derartiger Kurswechsel – ohne jeglichen Versuch, die Meinung des Volkes über diesen Kurswechsel zu erfahren und zu berücksichtigen, ohne den Versuch, der Öffentlichkeit das Geschehen zumindest zu erklären – ist in einem demokratischen Staat undenkbar. Das führte zwangsläufig zu einem Ausbruch von Unmutsbekundungen des Volkes.

Die Situation hat sich erheblich verschärft, nachdem in der Nacht auf den 30. November der „Studenten-Majdan“ auseinandergejagt wurde, und zwar mit einer Brutalität, die unzulässig und durch nichts zu rechtfertigen ist.

Die Verabschiedung eines repressiven Gesetzespakets vom 16. Januar 2014 hat eine neue und noch deutlich schärfere Protestwelle ausgelöst. Diese Gesetze, die eiligst und unter gravierenden Verletzungen des ordnungsgemäßen Procedere von der Werchowna Rada, dem Parlament, angenommen wurden, verändern die Rechtslage in der Ukraine einschneidend. Es ist kein Zufall, dass viele Beobachter diesen Vorgang als einen „De-facto-Umsturz“ bezeichnet haben.

Inzwischen berichten die Medien aus Kiew von zahlreichen Verletzten auf beiden Seiten. Es gibt Nachrichten über Tote – auf Seiten der Protestierenden. Besonders alarmierend sind die Meldungen, dass einige Personen mit Schusswaffen getötet wurden und einer zu Tode geprügelt.

Wir verurteilen die Gewalt auf allen Seiten, sowohl der Demonstranten als auch der Machthaber. Jegliche Gewaltanwendung führt das Land zum Abgrund. Wir appellieren an die ukrainischen Behörden ebenso wie an die Führer und Teilnehmer des Protests, die Gewalt zu beenden und einen Kompromiss zu suchen.

Der erste unerlässliche Schritt auf dem Weg zu einer Stabilisierung ist unserer Auffassung nach die Aufhebung der kürzlich verabschiedeten repressiven Gesetze.

Die Suche nach einer Übereinkunft wird natürlich nicht einfach. Wir rufen beide Konfliktparteien dazu auf, zu den Verhandlungen Vermittler aus den Reihen einflussreicher Politiker hinzuzuziehen – Staatschefs anderer Länder und/oder Leiter internationaler Organisationen.

Mittwoch, 22. Januar 2014

Anhörung im Europäischen Parlament zur Lage der Menschenrechte in Russland

Am 22. Januar veranstaltete der Menschenrechtsausschuss des Europäischen Parlaments (DROI) in Brüssel eine Anhörung zum Thema Menschenrechte in Russland.

Zu den Referenten gehörten Tanya Lokshina (Human Rights Watch) und Kirill Koroteev vom Menschenrechtszentrum MEMORIAL in Moskau.

Den Bericht von Kirill Koroteev in englischer Sprache finden Sie hier.

Dienstag, 21. Januar 2014

Im Handstreich repressives Gesetzespaket verabschiedet


"Agentengesetz" jetzt auch in der Ukraine


In aller Eile wurde in der Ukraine eine Serie von Gesetzen verabschiedet, die die demokratischen Freiheiten massiv beschneiden. Dazu gehört auch ein NGO-Gesetz, das sich am russischen Vorbild - dem so genannten "Agentengesetz" - orientiert. Wir dokumentieren leicht gekürzt eine Erklärung von ukrainischen Bürgerrechtlern, die von weit über 300 Menschenrechtsorganisationen und Privatpersonen unterzeichnet wurde. Auf der Website der ukrainischen Helsinki-Gruppe werden weitere Unterschriften gesammelt.

Das am 16. Januar durch Abstimmung gebilligte und unterschriebene Gesetz der Ukraine Nr. 3879 bedeutet eines: Für die Ukraine bricht eine Epoche der Reaktion und des Obskurantismus an.

Dieses Gesetz wurde unter Verletzung aller vorgeschriebenen Prozeduren verabschiedet – sowohl der Vorbereitung und fachlichen Bewertung als auch der Behandlung im legislativen Organ des Landes. Es verletzt fundamentale Freiheiten: Gewissens-, Meinungs-, Informations-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Bewegungsfreiheit, sowie das Recht auf Eigentum und auf Privatleben. Es verstößt gegen die entsprechenden Verfassungsnormen und Artikel des Internationalen UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte und die Konvention über Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Artikel 22 der ukrainischen Verfassung.

Insbesondere „bereichert“ das Gesetz das derzeitige juristische Vokabular um einen neuen Terminus, den „ausländischen Agenten“. Unter diese Kategorie fallen jene gesellschaftlichen Vereinigungen, „die Finanzmittel oder anderes Vermögen aus ausländischen Quellen erhalten…, und die sich auf ukrainischem Territorium politisch betätigen.“

Eine einfache linguistische und juristische Analyse des letzten Satzes, worin sich der rechtliche Inhalt des Begriffs „ausländischer Agent“ enthüllt, gibt Grund zur Annahme, dass von nun an jede gesellschaftliche Organisation, die von einer beliebigen ausländischen Stiftung, Botschaft, Organisation oder Person finanziell gefördert wird, diesen neuen Status bekommt.

Das Gesetz verlangt von einer gesellschaftlichen Organisation, sich unter diesem neuen Status zu registrieren, und droht für den Unterlassungsfall mit Sanktionen. Dieses Gesetz verletzt das wichtigste Element der verfassungsmäßigen Rechtsordnung – das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit - und die verfassungsmäßigen Rechte der Ukrainer sowie von in der Ukraine lebenden Personen ohne ukrainische Staatsbürgerschaft.

Der Terminus „ausländischer Agent“ versieht eine Person mit einem Makel, als ginge von ihr eine Gefahr aus. Sie wird damit einem aggressiven sozialen Scherbengericht ausgesetzt, ihr drohen Vertreibung und Vernichtung.

Sehen wir der Wahrheit ins Auge – es bedeutet, dass die herrschende Koalition der Zivilgesellschaft den Krieg erklärt hat. Wir haben jedoch nicht vor, in diesem Krieg, der uns erklärt wurde, zu kapitulieren.

Wir werden uns niemals damit abfinden, dass uns die Machtorgane in ein soziales Ghetto treiben und das Etikett eines „ausländischen Agenten“ anheften (…). Den Status eines „ausländischen Agenten“ zu akzeptieren hieße, das Andenken unserer großen Vorgänger zu beleidigen (…) die im Kampf für die Menschenrechte in der Ukraine ihr Leben gelassen haben.

Die hinter diesen obskurantistischen Maßnahmen der herrschenden Koalition stehenden Beweggründe sind klar. Diese Koalition ist angesichts der massiven sozialen Proteste in panischer Angst, sie will um jeden Preis ihre Privilegien im System erhalten, das in den letzten drei Jahren einer neofeudalen Machtstruktur und in Folge der Umverteilung von Eigentum entstanden ist.

Es geht in diesem ganzen unklugen und unsauberen Spiel der herrschenden Koalition nur um eines: – die Wahlen 2015 zu gewinnen. Deshalb hat diese Koalition schon jetzt fürden Kampf mit dem Majdan kriminelle Kräfte mobilisiert und ruft Organisationen unter ihre Fahnen, die die Ideologie von Schwarzhundertern vertreten und Pogrome provozieren. (…).

Die Gesellschaft wird daher zu neuen Formen gewaltlosen Widerstandes greifen.


Nikolaj Kosyrev (Ukrainische Helsinki-Gruppe)
Arkadij Burtschenko (Ukrainische Helsinki-Gruppe)
Jevgenij Sacharov (Menschenrechtsgruppe Charkov - MEMORIAL)

Mittwoch, 15. Januar 2014

MEMORIAL Deutschland lädt ein: Benefizkonzerte zur Unterstützung der Menschenrechte in Russland

Vom 24. Januar bis zum 9. Februar spielen sie wieder in Berlin: die jungen Musiker des Kammermusikensembles MEMORIAL aus St.Petersburg. Seit 1990 hat das Ensemble in unterschiedlicher Besetzung zahlreiche Konzertreisen durch Deutschland absolviert. Mit ihrem ehrenamtlichen Engagement tragen die Musiker zum Lebensunterhalt von Überlebenden des stalinistischen Lagersystems GULag in St. Petersburg bei. Der russische Staat als Rechtsnachfolger der Sowjetunion fühlt sich für sie, deren Gesundheit durch jahrelange Zwangsarbeit unter verheerenden Bedingungen zerstört wurde, bis heute nicht verantwortlich.

Als zivilgesellschaftliche Organisation Ende der achtziger Jahre in Moskau gegründet, arbeitet MEMORIAL die Geschichte des politischen Terrors in der Sowjetunion auf, unterstützt die Überlebenden der stalinistischen Repressionen und tritt aktiv für die Menschen- und Bürgerrechte in Russland ein. Im vergangenen Jahr erlebte MEMORIAL neben vielen anderen NGOs eine massive Behinderung seiner Arbeit durch staatsanwaltliche Ermittlungen und mediale Anfeindungen im Rahmen des „Gesetzes über ausländische Agenten“. Die Finanzierung und Weiterführung von Projekten, die Putins Bürokraten als politische Einflussnahme werten, werden dadurch erschwert. Als Folge hat sich nun das Antidiskriminierungszentrum MEMORIAL, das sich v.a. gegen die Diskriminierung von Minderheiten durch den Staat und für mehr Toleranz in der Bevölkerung engagierte, als juristische Person zum Jahresende auflösen müssen.

Die Benefizkonzerte des Kammermusikensembles sind eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten, die Arbeit von MEMORIAL aus dem Ausland zu unterstützen. Der Erlös kommt vollständig der materiellen, juristischen und medizinischen Unterstützung der Überlebenden des GULag zugute. Diese soziale Arbeit für seine Bevölkerung lässt Russland (noch) zu.

Dienstag, 14. Januar 2014

Benefizkonzerte des Kammermusikensembles MEMORIAL Sankt Petersburg für die Opfer des Stalinismus

Termine in Berlin und Umland


Fedor Abaza - Klavier
Elizaveta Startceva - Viola
Diana Zaviryukha - Violine


Programm (vorläufig)

Wolfgang Amadeus Mozart - Trio Es-Dur KV 498
Peter Tschaikowski - Walzer-Scherzo A-Dur op. 34
Johannes Brahms - Trio Es-Dur op. 40
Johann Sebastian Bach - Sonate für Violine Nr. 2 a-moll, BWV 1003
Sergej Rachmaninow - Moment musical, op. 16

Das Programm finden Sie hier als PDF-Datei.

 

Freitag, 24.01.14, 19:00 Uhr
Ev. Kirchengemeinde Neu-Westend (Gemeindehaus), Eichenallee 49, 14050 Charlottenburg-Wilmersdorf (U2 Neu-Westend, Bus 104, M45)

Sonnabend, 25.01.14, 19:30 Uhr
Hof Marienhöhe, Marienhöhe 3, 15526 Bad Saarow

Sonntag, 26.01.14, 18:00 Uhr
Ev. Kirche Frohnau, Zeltinger Platz 18, 13465 Frohnau (S1 Frohnau)

Dienstag, 28.01.14, 19:00 Uhr
Ev. Grunewaldkirche, Bismarckallee 28b, 14193 Charlottenburg-Wilmersdorf (S7 Grunewald, M19, Bus 186)

Mittwoch, 29.01.14, 19:00 Uhr
Ev. Ernst-Moritz-Arndt Kirche Zehlendorf, Onkel-Tom-Straße 80, 14169 Steglitz-Zehlendorf (U3 Onkel Toms Hütte, Bus 118)

Freitag, 31.01.14, 19:00 Uhr
Ev. Auenkirche, Wilhelmsaue 118a, 10715 Berlin-Wilmersdorf

Sonnabend, 01.02.14, 17:00 Uhr
Ev. Kirchengemeinde Berlin-Johannisthal, Sterndamm 90, 12487 Berlin Treptow-Köpenick (M11, X11, Bus 160)

Sonntag, 02.02.14, 18:00 Uhr
Ev. Johanneskirche Lichterfelde West, Ringstraße 36, 12205 Steglitz-Zehlendorf (S1 Lichterfelde West, Bus 188)

Sonnabend, 08.02.14, 17.00 Uhr
Ev. Kirche Am Lietzensee, Herbartstr. 4-6, 14057 Charlottenburg-Wilmersdorf (S 3, 5, 7, 75, 41, 42, 46, Bus 139, X49)

Sonntag, 09.02.14, 17:00 Uhr
Ev. Kirche Eichwalde (Gemeindehaus), Stubenrauchstraße 19, 12527 Eichwalde (S46 Eichwalde)

Montag, 6. Januar 2014

Susanna Petschuro (1933-2014)


Am 1. Januar ist in Moskau Susanna Petschuro gestorben. Sie gehörte zu den Gründungsmitgliedern von MEMORIAL in der Sowjetunion und war lange Zeit Mitglied des Vorstands.

Die Beisetzung findet am 6. Januar in Moskau statt, im Anschluss daran eine Gedenkveranstaltung in den Räumen von MEMORIAL.

Ende der 1940er Jahre gehörte Susanna Petschuro einer antistalinistischen Widerstandsgruppe in Moskau an. 1951 wurde die Gruppe zerschlagen, Susanna Petschuro, damals 17 Jahre alt, wurde verhaftet und zu 25 Jahren Haft verurteilt, drei Mitglieder ihrer Gruppe wurden hingerichtet.

1956 wurde Susanna Petschuro auf Grund einer Amnestie entlassen, nachdem ihr Strafmaß vorher mehrfach herabgesetzt worden war. Nach der Haft studierte sie an der historischen Fakultät und arbeitete im Archiv des Afrika-Instituts. Ihre Kurzbiographie finden Sie hier.

Im Rahmen des Videoprojekts „Die letzten Zeugen“ von MEMORIAL wurde Susanna Petschuro ausführlich interviewt. Auszüge aus ihrem Interview finden sie in deutscher Sprache hier, im Original hier.

Sonntag, 5. Januar 2014

Russische Nichtregierungsorganisationen und die Auswirkungen des „Agentengesetzes“


Eine Bilanz für 2013


Das Jahr 2013 stand für die russischen NGOs im Zeichen der 2012 im Schnellverfahren beschlossenen Novelle des NGO-Gesetzes, die im November 2012 in Kraft getreten war. Das Gesetz war um die Bestimmung ergänzt worden, dass sich „politisch tätige“ und zumindest teilweise aus dem Ausland finanzierte NGOs als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssten; daher die Bezeichnung als „Agentengesetz“.

Im Februar 2013 mahnte Präsident Putin ausdrücklich an, dass die  novellierte Fassung des NGO-Gesetzes auch anzuwenden sei. Fast keine NGO hatte sich bereit erklärt, sich als „ausländischer Agent“ registrieren zu lassen – ein historisch belasteter Begriff, der für viele einfach gleichbedeutend ist mit „Spion“. (Eine einzige Organisation ließ sich tatsächlich in das Verzeichnis aufnehmen - ein Verein gegen die Bildung von Monopolen unter der Bezeichnung „Förderung der Entwicklung von Konkurrenz in der GUS.“)

Furkat Tischaev, der viele NGOs in den folgenden Prozessen vertreten hat, nannte dies einen präzedenzlosen Vorgang: „Bisher gab es Gesetze, mit denen man nicht einverstanden war, aber niemand hätte sich unterfangen, sie zu boykottieren. Das ist ein noch nicht dagewesenes Phänomen in Russland, dass NGOs gesagt haben: Ihr könnt uns zerstören, aber dieses Gesetz werden wir nicht einhalten.“ Im Frühjahr setzten die bekannten umfassenden Überprüfungen der NGOs ein, die Tausende von Dokumenten in kürzester Zeit zusammenstellen und übergeben mussten. Gelegentlich wurden die überprüfenden Organe von Aufnahmeteams des Fernsehkanals NTV begleitet.

Insgesamt wurden nach offiziellen Angaben Tausende von Organisationen überprüft. „Closed society“ und Radio Svoboda haben die Daten aus Publikationen und offen zugänglichen Quellen erfasst und eine Übersicht über die Überprüfungen und über die nachfolgenden Maßnahmen, Verfahren und Sanktionen als interaktive Karte ins Internet gestellt. Registriert wurden 311 Überprüfungen von insgesamt 13 Behörden. 99 dieser NGOs wurde gemaßregelt (einige davon mehrfach): 52 erhielten eine Verwarnung, sie wurden ermahnt, die Gesetze einzuhalten. 18 NGOs wurden aufgefordert, sich als „Agent“ registrieren zu lassen. Wegen nicht erfolgter Registrierung als „Agent“ wurden neun Administrativverfahren eingeleitet. Die Arbeit zweier Organisationen wurde für sechs bzw. drei Monate ausgesetzt – dies galt für die „Assoziation Golos“ (den Dachverband der einzelnen Golos-Verbände) und die „Regionale gesellschaftliche Organisation Golos“. „Golos“ hat sich inzwischen umstrukturiert und setzt seine Tätigkeit zum Schutz der Wählerrechte als „gesellschaftliche Bewegung“ fort.

Die NGOs setzten sich gegen die Maßnahmen gerichtlich zur Wehr. Die Gerichte verfuhren unterschiedlich. Tischaev zufolge folgten sie entweder in allem der Staatsanwaltschaft und bewerteten etwa die Rechtsberatung für Bolotnaja-Häftlinge (die nach der Demonstration am 6. Mai 2012 inhaftiert worden waren) oder die Organisation von Diskussionsveranstaltungen als „politische Tätigkeit“ im Sinne des Gesetzes. Oder aber sie entschieden zugunsten der NGOs, dann aber aus formalen Gründen (z. B. weil der Staatsanwalt eine erforderliche Vollmacht nicht vorgelegt hatte). „Statistisch betrachtet, ist das Ergebnis der gewonnenen und verlorenen Verfahren unentschieden, aber inhaltlich gesehen ist es eine Katastrophe“, so Tischaev. Auf eine inhaltliche Aussage, dass Menschenrechtsarbeit nicht „politisch“ sei, habe sich kein Gericht eingelassen. Eine Ausnahme sei hier lediglich Perm. Dort wurde gerichtlich festgehalten, dass die Menschenrechte ein in der Verfassung verankerter Grundwert sind, den zu schützen daher keine „politische“ Tätigkeit sei.

Aus einer Analyse von Closed Society geht hervor, dass die Novelle des NGO-Gesetzes vor allem Menschenrechtsorganisationen im Visier hatte. Sie machen 30 Prozent der überprüften Organisationen aus, und hier waren vor allem jene zum Schutz der Wählerrechte (Golos) und Verbände zum Schutz sexueller Minderheiten - LGBT-Verbände - betroffen. Von letzteren wurden sechs geprüft und fünf zu (Geld)Strafen verurteilt.

Einen Sonderfall stellen Tischaev zufolge die „Zivilklagen“ dar, die die Staatsanwaltschaft gegen vier NGOs eingeleitet hat – das ADZ Memorial und die LGBT-Vereinigung „Vychod“ in Petersburg, die „Don-Frauen“ in Novotscherkassk und das Zentrum für soziale und Genderforschung in Saratov. Letzteres sowie das ADZ haben vor Gericht in erster Instanz bereits verloren. Die Gefahr bei dieser Art von Verfahren liegt darin, dass hier die juristische Möglichkeit besteht, eine NGO zur Registrierung als Agent zu zwingen (bei den anderen Verfahren drohen Strafzahlungen und im Extremfall die zeitweilige oder völlige Aussetzung der Tätigkeit).

Bisher sind indes längst nicht alle Verfahren abgeschlossen. Eine Übersicht über bisherige und künftige Gerichtstermine sind ebenfalls im Internet erfasst. Einige wichtige Verfahren - betroffen waren u. a. die Assoziation „Golos“ (deren Tätigkeit ja bereits ausgesetzt wurde) und die Stiftung „Gesellschaftliches Verdikt“ – wurden vertagt, um die Entscheidungen des russischen Verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abzuwarten, die 2014 anstehen. Im Februar 2013 hatten bereits mehrere NGOs beim EGMR gegen das "Agentengesetz" geklagt, andere klagten später beim Verfassungsgericht, unterstützt vom Menschenrechtsbeauftragten Vladimir Lukin und dem Vorsitzenden des Menschenrechtsrats Michail Fedotov.

Auf ausländische Unterstützung können und wollen die meisten NGOs nicht verzichten, manche betonen vielmehr ausdrücklich, ein Recht darauf zu haben. Die Möglichkeiten für NGOs, in Russland selbst staatliche Fördergelder zu bekommen, wurden im letzten Jahr ausgeweitet. Der Schwerpunkt liegt hierbei zwar bei Organisationen, die im sozialen Bereich tätig sind, profitieren konnten jedoch auch Menschenrechtsorganisationen und andere NGOs. So erhält das Menschenrechtszentrum MEMORIAL einen Zuschuss für die Erstellung seines vierteljährlichen Kaukasus-Berichts sowie für das Projekt „Migration und Recht“, das NIPZ (Zentrum für Information und Aufklärung) von Memorial in Moskau bekommt Unterstützung für ein historisches Projekt. Allerdings werden diese punktuellen Projektförderungen es gerade größeren Organisationen nicht ermöglichen, auf ausländische Sponsoren zu verzichten.

Grigorij Ochotin, einer der Mitarbeiter von Closed Society, führt die Tatsache, dass die Kampagne gegen die NGOs inzwischen nachgelassen hat, nicht zuletzt auf ihre massive Gegenwehr zurück sowie darauf, dass es ihnen gelungen ist, breite Unterstützung zu mobilisieren. Indes hält er die Situation nach wie vor für prekär, obwohl die Kampagne gegen sie nicht zuletzt auf Grund ihrer massiven Gegenwehr und Mobilisierung nachgelassen hat: „Das Gesetz wurde nicht abgeschafft, alle Instrumente für die Zerstörung des dritten Sektors existieren nach wie vor, und sie können jederzeit angewandt werden.

Samstag, 4. Januar 2014

Erklärung des ADZ Memorial zur Auflösung der Organisation

Die Arbeit wird jedoch weiter gehen


Das vergangene Jahr 2013 war für viele ein schlechtes Jahr. Das gilt für NGOs, die ins Kreuzfeuer staatsanwaltlicher Überprüfungen gerieten, für Minderheiten, deren Rechte gesetzlich eingeschränkt wurden, Migranten, die sowohl von Seiten der Behörden als auch von Nationalisten „Razzien“ ausgesetzt waren, Gefangenen, die vergeblich auf eine Amnestie hofften. Schlecht erging es auch Ökologen und Menschenrechtlern, gemeinnützigen Organisationen und religiösen Gruppen.

Das Jahresende brachte auch das Ende für einige Arbeiten und Themen. Der Beginn des neuen Jahres wird hier auch ein Neubeginn.

Die Arbeit an den Projekten der privaten gemeinnützigen Institution „Antidiskriminierungszentrum ‚Memorial‘“ ist beendet. Die offene Kampagne gegen unsere Organisation, die ständigen neuen „Aufforderungen“, „Verordnungen“, „Einsprüchen“ und „Klagen“ der Staatsanwaltschaft machen es einfach unmöglich, die Arbeit wie früher fortzuführen.

Auf den Einsatz für die Rechte gefährdeter Gruppen – Roma und Migranten, verschiedener Minderheiten, Frauen und Kinder – hat die Staatsanwaltschaft mit handfesten politischen Repressionen reagiert. Denn die Klage, mit der das ADZ gezwungen werden sollte, seine Tätigkeit  als die „einer NGO, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausübt“, zu deklarieren, ist eine Repressionsmaßnahme. Die Richterin des Lenin-Bezirksgerichts St. Petersburg Anna Moros hat der Klage stattgegeben. Das ADZ hat weder die Klage noch die Gerichtsentscheidung als legitim akzeptiert und wird dies auch nicht tun.

Aber wenn man mit diesem Makel versehen ist, kann man nicht mit Schulen und Fachhochschulen zusammenarbeiten, nicht mit Arbeitsinspektionen, die die Arbeitsbedingungen von Migranten überprüfen, und nicht mit Verwaltungsorganen in Regionen, in denen Roma-Familien leben.

Wir sehen uns daher gezwungen, die Projekte im Rahmen des ADZ Memorial aufzugeben. Wir hoffen jedoch, dass die Arbeit in allen Bereichen weiter geht.

Das ADZ Memorial (dies ist bereits die Bezeichnung für eine internationale Menschenrechtsorganisation) wird weiterhin Informationen über Menschenrechtsverletzungen an Minderheiten und anderen gefährdeten Gruppen sammeln und auswerten. Es wird Diskriminierung bekämpfen, Analysen erstellen, Berichte und Aufsätze publizieren und die Website adcmemorial.org betreiben.
Wir sind gezwungen, die juristische Person aufzugeben, aber nicht unsere Tätigkeit

Als private gemeinnützige Einrichtung hat das ADZ Memorial hat fast sechs Jahre existiert. In diesen Jahren haben wir viel erreicht, aber es bleibt noch mehr, was uns nicht gelungen ist. Wir konnten uns für die Rechte einiger hundert einsetzen, aber wir konnten die Praxis der Diskriminierung nicht beenden. Wir konnten Missstände bekannt machen, wie die Segregation von Kindern in den Schulen, die Polizeigewalt gegen schutzlose Personen, deren einzige Schuld in ihrem „Äußeren“ besteht, die katastrophale soziale und ökonomische Situation von Migranten und Roma. Aber es ist uns nicht gelungen, zu erreichen, dass die Normen des russischen und internationalen Rechts gegenüber den Gruppen und Personen, die zu unseren Schützlingen gehören, eingehalten werden.
Es gilt also weiterzuarbeiten, ungeachtet der Hindernisse, die man uns in den Weg legt.

Wir bedanken uns bei all jenen, die uns in der für unsere Organisation schweren Zeit unterstützt haben und für uns eingetreten sind, die die lange Geschichte der Schikanen gegen das ADZ gewissenhaft und verantwortungsbewusst öffentlich gemacht haben, die die Gerichtstermine verfolgt und ihnen beigewohnt haben, die darüber gelesen und an uns gedacht haben.
Wir können nicht alle nennen, man möge es uns nachsehen, wenn jemand in der Aufzählung fehlt. Besonders möchten wir die grundsätzliche Position des UNO-Komitees gegen Folter würdigen, das die Drangsalierung unserer Organisation wegen der Zusammenarbeit mit diesem Komitee und wegen der Veröffentlichung unseres Berichts über Polizeiwillkür scharf verurteilt hat. Wir danken der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH), die immer wieder die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf unsere beklagenswerte Situation gelenkt hat, und ebenso allen weiteren Organisationen, die Erklärungen zu unserer Unterstützung abgegeben haben, darunter Human Rights Watch, Frontline for Human Rights Defenders, Civic Solidarity Platform, der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL, Amnesty International, dem Zivilform „EU-Russland“, dem Europäischen Zentrum für die Rechte der Roma, Minorities Rights Group.

Wir danken all jenen, die sich persönlich gegen die ungerechten Verfolgungen gewandt haben, in Roma-Mailinglisten und in Publikationen, die aus dem fernen Zentralasien Solidarität bekundet und die bei allen möglichen Treffen und Konferenzen über unsere Notlage berichtet haben.

Die große Unterstützung, die uns durch die Medien zuteilwurde, erfüllt uns nicht nur mit Dankbarkeit, sondern auch mit Stolz. Ungeachtet der Tatsache, dass in unserem Fall eindeutig ein staatlicher Auftrag vorlag, haben die Journalisten über uns fast nur positiv berichtet (das NTV zählt hier nicht, aber selbst dort wurden wir nicht besonders attackiert!).

Solange Journalisten über politische Verfolgungen die Wahrheit schreiben können und wollen – wenn auch nur in einigen wenigen Publikationen – ist nicht alles verloren. Und dass sie es „wollen“ ist hier wichtiger als das sie es „können“.

Nicht nur Journalisten, wir alle werden das können, was wir wollen!

Ein gutes neues Jahr! Auf ein neues ADZ!